Das russische Fernsehen über Gedenken an den 2. Weltkrieg: Von Traditionalisten und totalitären Liberalen

Da ich immer wieder gefragt werde, wie man in Russland auf den Zweiten Weltkrieg blickt, habe ich einen Beitrag aus der russischen Sendung „Nachrichten der Woche“ von Sonntag übersetzt. In dem Beitrag ging es um den „Tag des Sieges über den Faschismus“, der in Russland jedes Jahr am 9. Mai aus Anlass des Kriegsendes gefeiert wird und der einer der drei wichtigsten russischen Feiertage ist.

Bevor wir zu der Übersetzung kommen, muss ich jedoch einiges vorweg schicken, damit der Beitrag für Menschen, die Russland nicht kennen, verständlich wird, denn es geht um Debatten in Russland, wie man mit diesem Feiertag umgehen soll.

Zunächst muss man wissen, dass es in Russland keinen Hass auf die Deutschen oder Deutschland gibt. In Russland wird streng getrennt zwischen den „Faschisten“ des Hilter-Regimes und den „Deutschen“. Ich war oft bei den Feierlichkeiten zum Kriegsende dabei und habe nie etwas Negatives erlebt, selbst wenn ich mich als Deutscher zu erkennen gegeben habe.

Wenn man mit Russen über den Zweiten Weltkrieg spricht, hört man oft folgende Einstellung: „Zwei Diktatoren haben sich gestritten und gelitten haben wie immer die kleinen Leute auf beiden Seiten.“

So erklärt sich auch, dass Russen einen Deutschen völlig verständnislos anschauen, wenn er sich des Krieges wegen schuldig fühlt. Für die Russen ist es unverständlich, dass sich ein Deutscher, der mit dem Krieg nichts zu tun hat und Jahrzehnte nach Kriegsende geboren wurde, sich deswegen schuldig fühlen kann. Schuldig sind für die Russen die Menschen, die für den Krieg die Verantwortung tragen und diejenigen, die gemordet haben. Aber nicht deren Nachkommen.

Die Sowjetunion hat in dem Krieg fast so viele Opfer zu beklagen gehabt, wie alle anderen beteiligten Länder des Zweiten Weltkrieges zusammen. Jede Familie hatte Opfer zu beklagen und bis heute weiß jedes Schulkind genau, was die Ur-ur-Großeltern im Krieg gemacht haben, wo sie gekämpft haben und wo sie gefallen sind. Diese Erinnerung wird in Russland sehr hoch gehalten.

Die Feierlichkeiten selbst sind ein Volksfest mit einer einmaligen Stimmung, die zwischen Gedenken und Feiern schwankt. Im Vorfeld werden in sozialen Netzwerken oder auch auf Plakaten Bilder von Veteranen verbreitet, auf denen zu lesen steht „Danke, Großvater, für den Sieg!“ Die Stimmung ist also generell positiv, man erinnert sich der Opfer, aber man feiert auch die Sieger.

Besonders beeindruckend ist eine neue Tradition, die das „Unsterbliche Regiment“ genannt wird. Dabei nehmen Menschen Bilder oder Plakate mit Fotos ihrer Vorfahren, die im Krieg waren, und tragen sie über die zentrale Straße der Stadt. Das ist eine gigantische Prozession. Ich habe das in St. Petersburg einige Male gesehen und nichts konnte mir den Schrecken des Krieges so vor Augen führen, wie diese Prozession des „Unsterblichen Regiments“. Auf dem 8-spurigen Prachtboulevard von St. Petersburg ziehen Massen von Menschen mit den Bildern ihrer Vorfahren stundenlang an einem vorbei und man bekommt einen wirklichen Eindruck davon, wie schlimm es gewesen sein muss, wenn so viele Menschen gekämpft haben und gestorben sind.

Am Ende des Beitrages habe ich ein Video vom „Unsterblichen Regiment 2019“ in Moskau verlinkt, für alle, die es noch nie gesehen haben.

Jedenfalls wird diese neue Tradition immer beliebter bei den Russen und sie wird inzwischen auch außerhalb Russlands begangen.

All dies muss man wissen, wenn man diesen Beitrag des russische Fernsehens über das Gedenken und die Feiern zum Kriegsende vor 74 Jahren verstehen will.

Beginn der Übersetzung:

Im Vorfeld unseres großen Feiertages zum Sieg über den Faschismus kommen wieder die Forderungen aus den Kreisen unserer Unversöhnlichen, ich würde sie sogar als totalitäre Liberale bezeichnen, die Militärparade abzuschaffen.

„Sagt die Parade am 9. Mai ab. Sie war immer sinnlos und jetzt ist sie sogar blasphemisch“ sagte der Präsident der Bewegung „Gewerkschaft der richtigen Kräfte“ Leonid Gozman.

„Blasphemie“ meint er wegen des Flugzeugabsturzes des Superjet. Wichtig ist, dass Gozman die Militärparade am 9. Mai, dem Tag des Sieges, als „sinnlos“ bezeichnet.

Und weiter. Der Schauspieler Maxim Vitorgan argumentiert, dass die aktuelle Generation nichts zu feiern habe. „Wir haben nichts zu feiern. Ich glaube, dass es eines Tages ein Tag der Stille sein wird“ meint Vitorgan. Als „Tag des Schweigens“ wird in Israel der Holocaust-Gedenktag bezeichnet. „Wenn das ganze Land buchstäblich innehält. Alle halten inne und gedenken.“ sagte Vitorgan.

Im landesweiten Radiosender „Echo Moskvy“ wird Vitorgans Meinung von dem Journalisten und Politologen Arkady Dubnov aufgegriffen: „Wir müssen trauern, nicht feiern. Und das ist in der Regel unvereinbar.“

Und natürlich gibt es viel Kritik an Kindern in Uniformen und Soldatenmützen. Der ehemalige Bürgermeister von Ekaterinenburg, Evgeni Royzman, sagte: „Wenn kleine Kinder in Militäruniformen gekleidet sind und feiern, bekommen die Kinder haben eine völlig falsche Vorstellung vom Krieg. Das ist eine Karnevalisierung. Krieg sollte nicht karnevalisiert werden.“

Und als Beigabe meint der Politologe Gleb Pavlovsky, wir alle würden „militarisiert“ werden. „Wir militarisieren diesen Feiertag wieder. Es war selbst in der Sowjetunion viel weniger militarisiert, als jetzt“ meint Pawlowsky.

Solche Meinungen hört man oft. Wir haben Gott sei Dank Meinungs- und Redefreiheit. Und die wird genutzt. Aber wie soll man diese Aussgen einschätzen? Lassen Sie uns, ohne jemanden in eine Ecke zu stellen, das Ganze in aller Ruhe analysieren. Nicht um zu streiten, sondern jeder für sich selbst. Das Thema ist für jeden von uns wichtig, für das Land und auch für die Kinder. Was bedeutet zum Beispiel in Russland eine Parade? Wofür wird sie abgehalten? Und warum wird sie genau so abgehalten? Wo ist da die Trauer, wo das Gedenken? Und wie sehr sind wir militarisiert?

Unsere Militärparade ist eine Form der militärischen Ehrerbietung für die, die gefallen sind, die ihr Leben für unsere Freiheit, für die Freiheit Europas und der Welt gegeben haben. Sie ist eine Form der militärischen Ehrerbietung an die 27 Millionen, die für den Sieg über den Faschismus ihr Leben geopfert haben. Daher die Strenge der Stilistik unserer Parade, daher die Schweigeminute vor dem Beginn der Parade.

Unsere Parade ist eine dankbare Erinnerung an diejenigen, die diesen schrecklichen Kampf überlebt haben und heute nicht mehr unter uns sind. Unsere Parade ist auch Trost für die wenigen Veteranen, die noch unter uns sind. Jetzt sind nur noch 76.000 übrig. Fragen Sie sie, jeden einzelnen Veteranen, ob es Sinn macht, eine solche Parade am 9. Mai abzuhalten und jeder wird antworten: Ja.

Und was das Beispiel Israel betrifft, so gibt es dort den „Tag des Schweigens“ und das respektieren wir. Aber jede Nation hatte in diesem Krieg ihre eigene Rolle. Israel feiert den Holocaust-Gedenktag, aber Israel selbst gab es damals noch gar nicht und die Juden in Europa waren größtenteils Opfer. Sie überlebten einen brutalen Genozid und die Erinnerung daran wird in jeder jüdischen Familie sorgfältig bewahrt.

Russland hat im Krieg andere Erfahrungen gemacht. Abgesehen davon, dass die Gesamtzahl der Opfer der Völker der UdSSR im Krieg viel höher war, als die Zahl der Opfer des Holocaust, konnten wir als mächtiger Staat zu der organisierten Kraft werden, die den Faschismus stoppte und ihn schließlich besiegte. Deshalb sind wir ein multi-nationales, multi-ethnisches Volk der Sieger, in dem Russen, Ukrainer und Weißrussen, die Völker des Kaukasus, Zentralasiens, Sibiriens und auch die Juden gekämpft haben.

Und daher nochmal zu Israel. Außer dem „Tag der Stille“ ist dort darum auch das „Unsterbliche Regiment“ am 9. Mai eines der größten seiner Art außerhalb Russlands. Es wird von jenen Juden begangen, die Nachfahren der Juden der Roten Armee sind, die zusammen mit den anderen Völkern der Sowjetunion den Faschismus besiegt haben.

Und das ist unser gemeinsamer Sieg, wir sind alle Nachkommen der Sieger, wir werden Ihnen nicht vergessen, was sie geleistet haben. Und wir werden daran erinnern, dass wir gegen eine Armee gekämpft haben, die von der irren Idee der rassischen Überlegenheit getrieben war. Und das ist der Sinn der Parade selbst und ihrer Stilistik. Die Tradition wurde übrigens von den Siegern selbst begründet, bei der Parade des Sieges im Jahr 1945. Und es gibt keinen Grund, daran etwas grundlegend zu ändern.

Nun zu dem Vorwurf der Militarisierung. Russlands Militärausgaben gehen zurück. Und seit dem vergangenen Jahr ist unser Land nicht mal mehr unter den Top Fünf der führenden Staaten bei den Militärausgaben. Nach Angaben des renommierten Stockholmer Instituts SIPRI war die Reihenfolge im Jahr 2018 so: Die USA an erster Stelle, gefolgt von China, Saudi-Arabien, Indien und Frankreich. Russland war nur auf dem sechsten Platz bei den Militärausgaben. Gleichzeitig waren unsere neuesten militärischen Technologien für andere unerreichbar, sogar zum Beispiel für die Vereinigten Staaten, deren Militärbudget über zehnmal größer ist, als unseres. Sie sind führend bei den Ausgaben. Wir sind führend in der Technologie, die uns ruhig schlafen lässt, ohne jeden militaristischen Hype.

Nun zu den Kindern in Uniform und den Soldatenmützen. Das ist wunderbar! Kinder überall auf der Welt wollen sich in der Rolle der Erwachsenen versuchen. Mädchen schlüpfen zum Beispiel gerne in die Schuhe ihrer Mama und die Jungs amüsieren sich zum Beispiel in den Gummistiefeln der Väter. Na und? Sollen wir die Neujahrsmaskerade und generell Kinderfeste mit Verkleidungen abschaffen, bei denen sich die Kinder als Köche, Polizisten, Ärzte, Prinzessinnen und Piraten verkleiden? Warum ist das Kostüm von Spider-Man und Superman erlaubt, aber das Helden-Kostüm des eigenen Großvaters ist etwas schlechtes?

So wird dem Kind die Erinnerung nahe gebracht, so wird das Interesse an echter, an wahrer Geschichte, auch an der Familiengeschichte, geweckt. Sollen etwa nur noch Einhörner, Spider-Man, Superman und Hulk erlaubt sein? Und warum so einseitig gegenüber Russland? Dann fordert doch auch ein Verbot von Cowboy-Hüten bei Kindern in Amerika. Von solchen Forderungen habe ich aber noch nie gehört.

Für Kinder ist die Uniform aus den Zeiten des Großen Vaterländischen Krieges eine spielerische Verbindung zwischen den Generationen. Daran ist nichts zerstörerisches für die Kinderpsyche. Im Gegenteil, das Kind spürt seine Zugehörigkeit zur Erinnerung und Geschichte der eigenen Familie. Das ist unbezahlbar für ein Kind. Genauso, wie zusammen mit den Erwachsenen in der Kolonne des „Unsterblichen Regiments“ mitzulaufen. So wird die Energie einer Generation an die nächste weitergegeben. Deshalb ist der Siegestag für uns alle so wichtig. Und so werden wir ihn immer feiern, was auch immer andere dazu sagen mögen.

Ende der Übersetzung

Kurzes Video des „Unsterblichen Regiments“ vom 9. Mai 2019 in Moskau. Zum Anschauen klicken Sie bitte auf Abspielen und dann auf „Auf YouTube ansehen“.

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Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

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