Farbrevolution oder Volksaufstand? Das russische Fernsehen über das Chaos Weißrussland

Natürlich war die Lage in Weißrussland das wichtigste Thema im wöchentlichen Nachrichtenüberblick des russischen Fernsehens. Da der entsprechende Beitrag sehr lang war, veröffentliche ich ihn ohne weitere Vorbemerkungen. Ins Auge springt aber wieder einmal, wie sehr sich Berichte im russischen und deutschen Fernsehen unterscheiden.

Beginn der Übersetzung:

Weißrussland blieb in dieser Woche eines der Hauptthemen auch in den Ländern, die sehr weit Minsk entfernt sind. Diese Aufmerksamkeit liegt nicht nur am Interesse an den inner-weißrussischen Ereignissen. Daher rufen so viele Staats- und Regierungschefs der Welt den russischen Präsidenten an.

Wladimir Putin hat die Lage nach den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland ausführlich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel erörtert. Die Position des Kremls ist eindeutig: Versuche, sich von außen in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen und eine weitere Eskalation der Krise zu fördern, sind inakzeptabel. Putin äußerte die Hoffnung auf eine baldige Normalisierung der Lage.

Der russische Präsident sagte auch seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron, dass der Druck auf die weißrussische Führung inakzeptabel sei. Moskau ist gegen jede ausländische Einmischung. Beide Staatschefs erklärten, sie seien daran interessiert, die Probleme so schnell wie möglich zu lösen.

Wladimir Putin hat diese Woche zweimal mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, gesprochen. Während des ersten Gesprächs äußerte sich der russische Präsident besorgt über die Versuche einer Reihe von Staaten, Druck auf die Führung von Weißrussland auszuüben und die innenpolitische Situation auf jede erdenkliche Weise zu destabilisieren. Russland ist daran interessiert, ein Szenario der Konfrontation zu verhindern.

Zwei Tage später, nach dem EU-Sondergipfel, dessen Hauptthema Weißrussland war, erzählte Charles Michel Wladimir Putin ausführlich von den Ergebnissen der Verhandlungen der europäischen Staats- und Regierungschefs. Während des Gesprächs formulierte der russische Präsident erneut die Position Moskaus: Druck auf die weißrussische Führung werde nichts Gutes bringen. Die Republik sollte ihre internen Probleme allein bewältigen. Die Gesprächspartner stellten ferner fest, dass sowohl Russland als auch die Europäische Union daran interessiert sind, dass sich die Lage so bald wie möglich wieder normalisiert.

Der finnische Präsident Sauli Niinisyo rief Moskau am Ende der Woche an. Er stellte fest, dass Helsinki auch für eine baldige Normalisierung der Lage sei. Wladimir Putin seinerseits bestätigte, dass Russland Versuche, sich einzumischen und von außen Druck auf die legitime Regierung von Weißrussland auszuüben, ablehnt.

Die Regierung des Landes kann die internen weißrussischen Probleme nur im Dialog mit seinen Bürgern lösen. Das besprachen Mitglieder des russischen Sicherheitsrates am Freitag. Wladimir Putin informierte die Teilnehmer des Treffens über die Telefongespräche über die Situation in der Republik, die er diese Woche mit den Führern anderer Länder geführt hat.

Es ist jetzt offensichtlich, dass sich die Situation ohne diese sehr engen und inhaltlichen Kontakte anders hätte entwickeln können.

Alexander Lukaschenko ist als Oberbefehlshaber in die seiner Meinung nach derzeit gefährlichste Region gefahren, an die westliche Grenze des Landes zu Polen. Eine Brigade von Fallschirmjägern aus Witebsk wurde als Verstärkung hierher in die Region Grodno geschickt. „Sie sehen, dass die schon einen alternativen Präsidenten herschicken das tun sie ernsthaft“, warnte Lukaschenko. „Wie wir erwartet haben, läuft alles nach Plan – nach dem Plan der Farbrevolutionen.“

Und ein solcher Plan kann nur vereitelt werden, wenn eine Armee seiner Anhänger mobilisiert wird. Tausende Menschen versammelten sich auf dem zentralen Platz in Grodno, um den amtierenden Präsidenten zu unterstützen.

„Heute werden wir in den Abgrund der Zwietracht gedrängt“, ist sich der Weißrussische Präsident auf der Veranstaltung sicher. „An der westlichen Grenze ist es unruhig. Sie klappern mit Waffen, sie drohen uns. Das ist eine Einmischung in die Angelegenheiten unseres souveränen Staates. Sie reiben sich die Hände und erinnern sich an die Vsochdnye Kresi, wo alle Weißrussen mit Kot beworfen wurden.“

Vsochdnye Kresi bedeutet übersetzt aus den polnischen „östliche Vororte“, so nennen sie in Warschau ihre ehemaligen Gebiete, die jetzt teilweise zu Weißrussland gehören. Lukaschenko erinnerte auch an einen anderen politischen und wirtschaftlichen Aspekt der Staatsgrenze: „Diese Grenze ist nicht nur die Grenze von Weißrussland, sondern auch die Grenze des Unionsstaates“, erinnert er. „Und den werden wir nicht hergeben.“ (Anm. d. Übers.: Russland und Weißrussland haben schon vor über 20 Jahren einen Vertrag zur Bildung eines gemeinsamen Unionsstaates geschlossen. Auch wenn diese staatliche Vereinigung nie zu Ende umgesetzt wurde, besteht der Vertrag und es wird über weitere Vereinheitlichungen verhandelt)

Lukaschenko dankte den Staats- und Regierungschefs der OVKS-Länder für ihre Bereitschaft, seit den ersten Tagen der Krise zur Stabilisierung der Lage beizutragen. Er verwies bei einer Demonstration seiner Unterstützer besonders auf die moralische Unterstützung hin: „Ich muss mich bei Putin bedanken, meinem Freund, der auch sagt: „Hör mal, warum schweigst Du zu all dem?“ Ich sagte: „Ich werde bald zu hören sein.“ Und jetzt werde ich gehört. Wie viele Menschen sind hier, schauen Sie sich um!“ (Anm. d. Übers.: Die OVKS ist ein Verteidigungsbündnis, zu dem einige ehemalige Sowjetrepubliken gehören)

Anfang der Woche sah alles anders aus: Massenproteste gegen die derzeitige Regierung und das wichtigste waren Aufrufe zu Streiks in den Fabriken. Einige Unternehmen standen still. In Minsk finden Massenkundgebungen statt, Menschenketten der Reue und Staus der Solidarität wurden organisiert. Parallel zu den Aktionen auf den Straßen ging die Opposition zu entschlossenem Handeln im politischen Bereich über – es wurde der sogenannte Koordinationsrat gebildet, der sich darauf vorbereitet, das Land in der Übergangszeit bis zu den nächsten Wahlen zu regieren.

Allerdings gab es dort nur wenige erfahrene Menschen. Die meisten sind Menschenrechtler. Der berühmteste ist Ales Bialiatski, ein aktivistischer Künstler – in den Kreisen durchaus populär – und Vladimir Cesler, der Schöpfer von Kunstobjekten, der jetzt das Land verlassen hat, obwohl er verkündete, dass er keine Drohungen erhalten hatte. Auch der Regisseur Juri Khashchevatsky, Autor des Films „Ein normaler Präsident“ über Lukaschenko trat dem Rat bei.

Infolgedessen wurde der kaum geschaffene Rat sofort kritisiert, auch vom Oppositionskanditaten Valery Zepkalo, der nicht in den Rat berufen wurde. Die Kriterien, nach denen die Mitglieder für das Leitungsorgan der Opposition ausgesucht wurden, sowie ihre Legitimität, blieben unklar.

„Natürlich hat den Rat niemand gewählt, es ist ein absolut selbsternannter Koordinierungsrat für die Machtübergabe, wie sie sich selbst nennen“, betont Nikolai Sergejew, Politikwissenschaftler und Mitglied der öffentlichen Kammer von Weißrussland. „Es sind absolut zufällig ausgesuchte Leute, die dort eingezogen sind, das heißt, es gibt dort keine einzige Figur, mit der man beispielsweise Verhandlungen führen könnte. Das sind Menschen, die nie etwas mit der Wirtschaft oder der Staatsführung zu tun hatten. Sie haben nur eines gemeinsam: Abneigung gegen Russland, Abneigung gegen Lukaschenko, Abneigung gegen die russische Sprache.“

Die berühmteste Figur des Rates wurde Swetlana Alexijewitsch. Sie ist eine Literaturnobelpreisträgerin, die auf Russisch schreibt, aber nichts dagegen hat, wenn es in der Ukraine verboten wird. Sie formulierte ihre Wahrnehmung über alles Russische während der Verleihung des Nobelpreises so: „Das russische Leben muss böse und unbedeutend sein, dann erhebt sich die Seele, sie erkennt, dass es nicht zu dieser Welt gehört“, sagte sie 2015 bei der Zeremonie in Stockholm. „Je schmutziger und blutiger, desto mehr Platz hat es.“

Und das ist ein Text derselben Schriftstellerin aus der Minsker Zeitschrift Neman. 1977 hat Swetlana Alexijewitsch den Essay „Schwert und die Flamme der Revolution“ über den Gründer der Tscheka, Felix Dzerschinsky, geschrieben:

„Und all die Dinge: ein Schreibgerät aus Felix Edmundovitschs Büro, sein Telefon, Bücher, Fotografien, Briefe – bekamen plötzlich eine tiefe menschliche Bedeutung für mich. Sie gaben mir das Gefühl, dass derjenige, dessen erstaunliches Leben sie bezeugen, nahe ist und sein lebendiger, warmer Atem war zu spüren … Ich erwischte mich dabei zu denken, dass ich immer Dserschinski selbst zitieren möchte. Seine Tagebücher. Seine Briefe… Wenn mein Sohn aufwächst, werden wir auf jeden Fall zusammen hierher kommen, um uns dem unerschütterlichen Geist desjenigen zu beugen, der Felix Dserschinski heißt.“

Die Bildung des Koordinierungsrates der Opposition wurde von der weißrussischen Generalstaatsanwaltschaft als Versuch eines Staatsstreiches bezeichnet und sie eröffnete ein Strafverfahren. Die ersten Zeugenvernehmungen von Aktivisten haben bereits stattgefunden. Einige Mitglieder haben den Rat schon verlassen. Die Namen derer, die in dem Rat geblieben sind, werden aus Sicherheitsgründen verheimlicht. Aber sie sagen, der Rat bestehe aus Dutzenden Mitgliedern.

Gleichzeitig wurde der Rat vom Westen tatkräftig unterstützt. Der Druck von außen auf Weißrussland wurde sowohl in Form von Erklärungen, als auch in den tatsächlichen Handlungen westlicher Politiker zum Ausdruck gebracht. Nach dem Sondergipfel hat die EU beschlossen, weitere 53 Millionen Euro für das „weißrussische Volk“ bereitzustellen.

Zuvor legten die Botschafter der Europäischen Union, Vertreter der USA und anderer Länder in Minsk Blumen an dem Ort nieder, an dem ein Demonstrant gestorben ist. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Valery Zepkalo wurde in Polen empfangen, während die wichtigste Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja in Litauen ist. Sie kommuniziert mit ihren Unterstützern vor allem über Videobotschaften. Sie rief die Weißrussen auf, die Streiks auszuweiten und sich „nicht einschüchtern zu lassen“, solange sie in Vilnius bleibe: „Ich liebe mein Land und ich werde zurückkehren, wenn ich sicher bin“, verspricht der Oppositionelle.

Die erste Mann im Staat hörte das und erzählte, unter welchen Umständen Tichanowskaja das Land verlassen hat: „Ich habe sie selbst dorthin geschickt“, sagte Lukashnenko. „Sie hat darum gebeten. Ich werde die Details nicht erzählen. Sie ist eine gute Frau, die ihre Kinder liebt.“

Tichanowskaja, eine ausgebildete Philologin und Übersetzerin für Englisch, nimmt ihre Ansprachen in einer für die Adressaten verständlichen Sprache auf, in Englisch: „Ehrwürdige Führer Europas!“ In den Untertiteln wurde das englische Wort „honourable“ in der amerikanischen Schreibweise geschrieben, ohne den Buchstaben „u“.

Und es gibt noch mehr bekannte Details im politischen Programm von Tichanowskaja. Auf ihrer Kampagnen-Website gab es einen – inzwischen gelöschten – Link zur Website des „Reformprojekts“. Sein Ziel ist ein radikaler Abbruch der gegenwärtigen Beziehungen zu Russland. Lukaschenko zitierte daraus und kommentierte: „Zum Beispiel der Austritt aus dem Unionsstaat, der Eurasischen Union, der Zollunion und anderer „von Russland dominierter Integrationsverträge.“ Ich muss Ihnen sagen, dass Russland keine dieser Strukturen dominiert. Man sollte mal die Statuten lesen. Dort werden die Entscheidungen einvernehmlich getroffen und jedes Land hat eine Stimme.“

Sie sind sogar auf Kosten riesiger wirtschaftlicher Verluste für das eigene Land bereit, mit Russland zu brechen: „Weißrussland hat am meisten von der Zollunion mit Russland profitiert. Sie verschaffte dem Land Zugang zum russischen Markt. Alle ihre Waren gehen durch Russland. Wir halten den größten Teil ihrer Staatsanleihen“, sagte Dmitri Abzalow, Politikwissenschaftler und Präsident des Zentrums für Strategische Kommunikation. „Der Verlust dieser Einnahmen wäre ein schwerer Schlag für Weißrussland.“

Was eine Schwächung oder gar ein Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Moskau bedeuten würde, geht aus den Statistiken hervor. Fast die Hälfte Außenhandels treibt das Land mit Russland. Das gleiche Bild bei den Investitionen. Russland ist der Hauptinvestor in Weißrussland und es investiert allein fast so viel, wie alle anderen Länder zusammen. Der Löwenanteil der weißrussischen Produkte – Lebensmittel, Traktoren, landwirtschaftliche Fahrzeuge – all dies wird in den riesigen eurasischen Wirtschaftsraum verkauft, aber die Europäische Union braucht diese Güter nicht, sie hat ihre eigenen.

„Jetzt wird gefordert: „Das wichtigste ist, dass Ihr streikt oder kündigt.“ Wie in dem Klassiker: „Das Ausland wird uns helfen!““, kommentierte Roman Golowtschenko, Ministerpräsident von Weißrussland. „Unsere Wettbewerber, auch aus Europa, sind sehr daran interessiert, dass die weißrussische Industrie gestoppt wird.“

Dass man Opfer bringen muss, vielleicht auch nicht nur wirtschaftliche, ist die Philosophie der Berater der weißrussischen Opposition. Swetlana Tichanowskaja traf sich mit einem dieser „Philosophen“ in Vilnius.

Der Franzose Bernard-Henri Lévy ist ein überzeugter Befürworter militärischer Interventionen. Er forderte die NATO auf, Jugoslawien zu bombardieren und unterstützte dann aktiv die Rosenrevolution in Georgien und Saakaschwilis Angriff auf Abchasien und Südossetien. Er hat auch den Arabischen Frühling in Libyen und Syrien gefördert. Und natürlich konnte er nicht anders, als auf den Maidan zu kommen; „Heute bin ich Ukrainer“, versicherte dort er unter Applaus vom Podium aus. „Die Ukraine war eine große Zivilisation, als Russland noch gar nicht existierte.“

Für seine Arbeit wurde Bernard-Henri Lévy in Serbien mit einem Kuchen „belohnt“, den ein Besucher dem Politikwissenschaftler an den Kopf geworfen hat. „Wo Lévy ist, da ist auch Soros. Wenn irgendwo ein pro-westlicher „Maidan“ stattfindet, ist Lévy sicher in der Nähe, danach wird das Land zerstört“, sagte Vladimir Kornilov, ein Politikwissenschaftler. „Und das war´s. Dann wäscht er sich die Hände: „Ab jetzt könnt Ihr ohne mich weitermachen, ich habe das Interesse verloren.“ Das einzige Land, in dem er einen „Maidan“ nicht unterstützt hat, war Frankreich. Als in seinem Viertel die „Gelbwesten“ auftauchten, war ein größerer Unterstützer für einen harten Polizeieinsatz gegen den „Maidan“ in Frankreich schwer zu finden. Er schrieb sogar einen Tweet, für den er sich danach entschuldigte. Lévy schrieb: „Macht mit Gas Druck auf sie, dieser Protest muss zerstreut werden“ und so weiter. Sehen Sie, in Frankreich darf man das nicht. Aber in der Ukraine, in Weißrussland, in Libyen und wo auch immer, da darf und muss man, da unterstützt er das.“

Der französische Präsident Macron bot an, zwischen der weißrussischen Regierung und der Opposition zu vermitteln, woraufhin sich Alexander Lukaschenko, der an dem Tag in einen gelben Umhang gekleidet eine landwirtschaftliche Anlage besuchte, als Vermittler zwischen den „Gelbwesten“ und dem französischen Präsidenten anbot:

„Macron hat erklärt, er möchte in Weißrussland vermitteln. Dann sollte ich vielleicht erst einmal hinfahren und Vermittler zwischen den Gelbwesten und Macron werden. Was da für eine Situation ist, Gott bewahre, aber den Terror und die Gelbwesten sieht er nicht. Mike Pompeo, der große Freund des weißrussischen Volkes, hat sich gerade gemeldet und die Situation in Weißrussland kommentiert. Soll er erst einmal bei sich klar kommen.

Die Lage rund um die Aktivisten auf den Straßen hat sich inzwischen deutlich verändert. Die Bewegung zur Unterstützung des amtierenden Präsidenten zeigt sich nun in voller Größe. In Dutzenden von Städten finden Aktionen für Frieden und Stabilität statt, sei es im kleinen Rogatschev oder im großen Vitebsk, dessen Amphitheater mit sechstausend Plätzen, wo normalerweise das Festival „Slawischer Basar“ stattfindet, randvoll war. Die Menschen sind gegen die Erschütterung des Landes.

„Das ist eine Farbrevolution. Ich bin selbst Ökonomin, ich weiß, dass nichts von alleine passiert“, sagte eine der Teilnehmerinnen der Aktion.

In der Festung Brest fand eine große Kundgebung statt. Bei den Massenkundgebungen versammeln sich die Menschen auf den zentralen Plätzen der Städte und Gemeinden. Auf dem Boden und in der Luft ist die Nationalflagge der Republik zu sehen. In Minsk gab es einen Autokorso. Lukaschenkos Anhänger fuhren auch mit Mähdreschern und Traktoren, natürlich weißrussischen, vor. Auch Biker schlossen sich an. „Ich bin nicht nur zur Unterstützung gekommen, sondern um für meine Heimat zu kämpfen“, sagen die Bewohner. „Weil wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen schönen Staat bekommen haben. Und wir sind gegen das, was die aus dem Westen tun wollen.“

Beispiele dafür findet man überall. An der südlichen Grenze liegt die Ukraine. Was und wie mit dem Land passiert ist, ist vor allen Augen geschehen. „Niemals entsteht eine Farbrevolution aus dem Nichts. Unzufriedenheit mit Lukaschenko existiert in der Gesellschaft“, erinnert Juri Schewzow, ein Politikwissenschaftler. „Aber es ist etwas anderes, dass jede Farbrevolution immer nicht nur eine soziale Bewegung ist, sondern auch ein technologisches Projekt. Und auch in diesem Fall. Da ist eine gewisse Unzufriedenheit, sie wird verstärkt, sie wird hypertrophisch aufgeblasen.“

Und wie inzwischen klar ist, wurden dazu massiv Falschinformationen eingesetzt. So stellte sich beispielsweise heraus, dass diese Frau, die sich in sozialen Netzwerken aktiv als Opfer der Willkür der Sicherheitskräfte darstellte, die Koordinatorin von Angriffen auf die Spezialeinheiten der Polizei war. (Anm. d. Übers.: In dem Beitrag wird an dieser Stelle die Frau gezeigt, wie sie sich in sozialen Netzwerken präsentiert hat und danach werden Sprachnachrichten aus Chats gezeigt, in denen sie zu Angriffen auf die Polizei aufruft.)

Es gab auch Aufnahmen, die bestätigten, dass die Proteste nicht immer friedlich waren. Und der Leiter eines Betriebes in Grodno hat von Demonstranten Drohungen gegen seine Kinder erhalten: „Wenn Sie unsere Flagge nicht hissen, werden wir Sie in Stücke schneiden“, zitierte Romuald Barsuk aus den Textnachrichten, die ihm geschickt wurden. Die Drohung gegen seine Kinder wurde auf seinen Wunsch verpixelt, weil dort ihre Namen geschrieben wurden.

Lukaschenko hat die Strafverfolgungsbehörden beauftragt, jeden solchen Fall zu verfolgen. Der weißrussische Präsident hat zum ersten Mal zugegeben, dass es auch Vorwürfe gegen die Polizei gibt, auf die jetzt ein enormer Druck ausgeübt wird: „Der Druck kommt aus Polen“, sagte der Präsident. „Welche Nummer rufen Sie an, wenn Sie Hilfe brauchen? Die 01, 02, oder die 03, die Nummern kennen wir alle seit unserer Kindheit. Und wenn sie jetzt etwas falsch gemacht haben, dann vergeben Sie ihnen bitte.“

„Die Suche nach gegenseitigem Verständnis ist jetzt vielleicht die wichtigste Aufgabe der gesamten weißrussischen Gesellschaft. Gleichzeitig macht Lukaschenko deutlich, dass er die Situation nicht nur bewahren will. Er spricht von der Arbeit an einer neuen Verfassung, nach deren Annahme durch ein Referendum Wahlen abgehalten werden können: „So soll es sein. Wir müssen eine neue Verfassung verabschieden, die Ihr wollt“, sagt er. „Sie sollte in einem Referendum angenommen werden, weil wir die jetzige Verfassung auch in einem Referendum angenommen haben, und nach der neuen Verfassung können wir Wahlen abhalten, wenn Ihr wollt, und das Parlament, den Präsidenten und die Regionalregierungen neu wählen.

Eine politische Formel, die allen gefällt, muss erst noch gefunden werden. Heute sind in Minsk Massenkundgebungen von Gegnern und Anhängern des amtierenden Präsidenten geplant.

Eine abwartende Position in Sachen Weißrussland einzunehmen, haben Litauen und Polen der EU nicht erlaubt. Aus den Ländern wurden schon vor dem Ende der Wahlen scharfe Erklärungen abgegeben, und dann bestanden diese Länder auf dem Video-Sondergipfel der EU. Bevor er begann, wir erinnern uns, hielten es Merkel, Macron und Michel für nötig, mit Putin zu sprechen. Auf dem EU-Gipfel wurden Worte der Verurteilung von Minsk in das Abschlussdokument aufgenommen, aber es gibt darin keine Forderung nach Neuwahlen, obwohl Litauen und Polen darauf bestanden haben: „Wir alle glauben, dass in Weißrussland Neuwahlen abgehalten werden sollten“, sagte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.

Die Beziehungen zwischen Litauen und Polen mit Weißrussland sind seit langem schwierig. Vilnius zum Beispiel protestiert gegen das weißrussische Atomkraftwerk in Astravets und hat jetzt erklärt, dass das Projekt wegen der Instabilität im Land eingefroren werden sollte. Litauens Emotionen sind verständlich, denn auf Druck aus Brüssel legte Litauen 2009 sein Kernkraftwerk Ignalina still, das siebzig Prozent des Stroms des Landes produzierte.

Der britische Guardian schrieb diese Woche über die Hintergründe der polnischen Reaktion. Nach dieser Version lenkt der polnische Präsident Duda mit dem Druck auf Weißrussland Brüssel ab, damit Duda seine Angriffe auf das polnische „Justizsystem und unabhängige Medien“ fortsetzen kann:

„Die internationale Aufmerksamkeit mag sich auf Weißrussland konzentrieren, aber in Polen haben die Minister gerade eine Herbstagenda angekündigt, die einen gleichzeitigen Angriff auf die Justiz und unabhängige Medien beinhaltet“, schreibt der Autor des Artikels mit dem Titel „In Polen wurden wir Zeugen der Zerstörung der Demokratie“

Doch während die Europäische Union ihre Liste der Personen vorbereitet, denen wahlweise Wahlfälschung oder Druck auf Demonstranten vorgeworfen werden, hat Litauen trotzig bereits seine eigene, separate Sanktionsliste eingeführt, auf der 31 Beamte und Präsident Lukaschenko stehen.

Vor diesem Hintergrund haben die europäischen Granden – Deutschland und Frankreich – ihrer Linie alleine abgestimmt. Macron lud Merkel in die Sommerresidenz Fort Breganson ein. Obwohl bei diesem Treffen der Abstand zwischen den Staatschefs sogar die zwei Metern übertraf, die von den Coronavirus-Normen gefordert werden, lagen die politischen Positionen eng beieinander. Berlin und Paris sind den Vorgängen in Weißrussland gegenüber kaltblütig und drängen niemandem ihre Vermittlung auf, es sei denn, Minsk bittet selbst darum. In der Zwischenzeit geht Lukaschenko nicht ans Telefon, er will unter Berücksichtigung der Meinung Moskaus handeln. (Anm. d. Übers.: Das wurde in Deutschland kaum gemeldet, aber als Merkel versucht hat, Lukaschenko anzurufen, hat der sich geweigert, den Anruf anzunehmen)

„Wir treten für einen Dialog mit Russland und mit der weißrussischen Regierung ein, wenn sie es wollen, aber Präsident Lukaschenko hat auf Anrufe bisher noch nicht geantwortet“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Aber natürlich werden wir die prinzipiellen Punkte verteidigen: Freiheit für politische Gefangene, Demonstrationsrecht der Bürger und einen flächendeckenden, umfassenden Dialog.“

„Wir erwarten einen ehrlichen und offenen Dialog, weil wir glauben, dass die Beziehungen der Europäischen Union mit Russland in vielerlei Hinsicht jetzt von der Situation in Weißrussland abhängen“, sagte Emmanuel Macron, Präsident Frankreichs. „Wir wollen nicht, dass sich die Geschichte, die sich in den letzten Jahren in der Ukraine entwickelt hat, wiederholt. Und darüber haben Präsident Putin und ich sehr offen gesprochen.“

Europa will also nicht, dass sich die ukrainische Geschichte wiederholt. Nach dem Maidan im Jahr 2014 wollte der Westen aus der Ukraine ein Modell für alle postsowjetischen Republiken machen und eine glänzende Zukunft isoliert von Russland aufbauen.

Doch nachdem sie aufgehört hatte, „die Mitbewohnerin der EU“ zu sein, wurde die Ukraine nicht zu einem Agrarriesen für die EU. Und das Problem sind nicht nur die hohen Importzölle und Quoten für Exporteure nach Europa. Nach den neuen Pflanzenschutzvorschriften müssen in der Landwirtschaft importierte Pestizide eingesetzt werden und selbst in großen ukrainischen Betrieben reicht das Geld dafür nicht und es werden Fälschungen benutzt.

Als Ergebnis stellte sich heraus, dass es unter diesen Bedingungen nur relativ profitabel ist, ein sehr schmales Segment – Sonnenblumen, Raps und Sojabohnen – anzubauen und für Devisen zu verkaufen. Aber der erhoffte Export einer breiten Palette landwirtschaftlicher Produkte ist ausgefallen. Daher gehören Felder mit Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln und Rote Bete der Vergangenheit an. Die Ukraine importiert jetzt sogar Buchweizen aus Kasachstan. Die Viehzucht befindet sich in einer tiefen Krise. Auch Salo kommt nicht mehr aus dem Land, das Fleisch dafür wird aus Polen, Deutschland und den Niederlanden importiert. (Anm. d. Übers.: Salo ist ein ukrainisches Nationalgericht, ein in Salz und Gewürzen gereifter, sechs bis zehn Zentimeter dicker Rückenspeck, der in dem Land auf jeden Esstisch gehört)

So hat der Maidan wohl nur eine Errungenschaft gebracht: die sogenannte „Visafreiheit“. Aber die ist nur ein Slogan. Schließlich ist nur ein Aufenthalt von bis zu 90 Tagen für Touristen und Studenten erlaubt, aber arbeiten dürfen Ukrainer in Europa nicht, obwohl Massen von Illegalen ständig die Grenzen von Polen und der Tschechischen Republik stürmen, weil sie dort in Nagelstudios oder Cafés und Restaurants fünfmal mehr verdienen können, als in ihrer Heimat. In der Tschechischen Republik waren 2018 80 Prozent der fast viertausend illegal im Land arbeitenden Ausländer Ukrainer.

Mehr noch: Die Pandemie hat bereits dazu geführt, dass die Befreiung von der Visapflicht, die es den Ukrainern erlaubte, unter dem Deckmantel als Touristen in die Europäische Union einzureisen, und dann einige Monate zu arbeiten, de facto abgeschafft ist. Wegen der Quarantäne hat die EU die Grenze für ukrainische Bürger geschlossen und wird sie voraussichtlich erst im nächsten Jahr wieder öffnen. Und ab Januar wird Europa ein neues elektronisches System zur Überprüfung visafrei Reisender einführen. Das lässt sich nicht betrügen, was bedeutet, dass illegale Einkommen für ukrainische Gastarbeiter der Vergangenheit angehören.

Schon jetzt sitzen in der Ukraine bis zu zwei Millionen Menschen fest, die zu den Osterferien nach Hause kamen und nicht in die EU zurückkehren konnten. Insgesamt arbeiteten vier Millionen Ukrainer in der Europäischen Union, eine Million alleine im polnischen Agrarsektor und nach verschiedenen Schätzungen zwischen 700.000 und sieben Millionen als Saisonarbeiter. Jedes Jahr überwiesen sie bis zu 15 Milliarden Dollar in ihr Heimatland, was etwa 10 Prozent des nationalen BIP entspricht.

Dieses Geld kommt nun nicht mehr und ehemalige Gastarbeiter – und das sind nur nach den ungefähren Daten zwei Millionen Menschen – werden in ihrer Heimat Arbeit suchen müssen, wo wegen der Quarantäne 30 Prozent der Erwerbstätigen in den Urlaub geschickt wurden. Das sind dieselben Leute, die um der europäischen Verdienste willen bereits ein paar Maidans veranstaltet haben. Und jetzt werden sie wahrscheinlich nicht still sein.

Insgesamt ist es nicht gelungen, aus der Ukraine ein attraktives Schaufenster der „Euro-Integration“ zu machen. Und es hat keinen Sinn, das mit Weißrussland zu versuchen. „Ich hoffe sehr, dass die Weißrussen, wie alle Freunde der Weißrussen im Ausland, Weißrussland hat viele Freunde im Ausland, in der Lage sein werden, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln“, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow. „Und dass sie nicht an der Leine derer gehen werden, die Weißrussland nur brauchen, um den geopolitischen Raum zu besetzen, um die bekannte destruktive Logik zu fördern – entweder seid Ihr bei der Russischen Föderation oder bei Europa.“

Trotz aller Pläne der Euroaktivisten in Minsk ist es schwer vorstellbar, dass in naher Zukunft ein Geschäft mit „weißrussischen Lebensmitteln“ auf den Champs-Elysees eröffnen wird. Und ihre Lastwagen in die EU zu verkaufen, die weißrussische Produzenten in russischen Regionen vertreiben, wird ihnen niemand erlauben.

Ende der Übersetzung

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Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

6 Antworten

  1. „…. einen flächendeckenden, umfassenden Dialog.“ (Merkel)

    So einen Dialog wie in D mit Medizinern, die zur „Pandemie“ eine andere Meinung haben? Oder mit Kritikern der Migrationspolitik? Oder mit AfD-Politikern? Dieses unsägliche Weib ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten und Macron stößt ins selbe Horn.

    1. Wie so ein „…. einen flächendeckender, umfassender Dialog“ aussieht, hat der heutige Bundespräsident Steinmeier zusammen mit dem polnischen und französischen Außenminister 2014 in Kiew vorgeführt. Sie haben mit Janukowitsch eine Vereinbarung ausgehandelt, wie es in der Ukraine weitergehen sollte. Das passte den Putschisten um Jazenjuk und Turtschinow allerdings mit Billigung der USA gar nicht oder vielleicht haben die USA diese Vereinbarung als nicht zielführend betrachtet, um ein für alle mal klare Verhältnisse zu schaffen. Jedenfalls wurde die Vereinbarung ignoriert, der Putsch ging weiter und wenn Janukowitsch nicht mit russischer Hilfe nach Russland gebracht worden wäre, hätten ihn Jazenjuk und Turtschinow eiskalt abknallen lassen! „Fuck the EU“ ließ Staatssekretärin Nuland damals die Welt wissen! Wer also soll mit dieser EU einen „umfassenden Dialog“ führen? Das ist doch Selbstmord! Der Steinmeier hätte auch nur mit den Schultern gezuckt und ebenso wie die Merkel nach einem Mord an Janukowitsch dem Jazenjuk und dem Turtschinow die Hand geschüttelt!

      1. Wer immer noch nicht begriffen hat, dass nur der Westen Freunde hat, wenn man mit ihm befreundet ist, dem ist nicht mehr zu helfen. Lukaschenko sollte bei Anrufen von Merkel & Gelumpe dieses „Fuck the EU“ ausschneiden und als Antwort in Endlosschleife am Telefon laufen lassen.

  2. *** Russland als auch die Europäische Union daran interessiert sind, dass sich die Lage so bald wie möglich wieder normalisiert ***
    Nur was Normal ist, da ist das 4 Reich / EU, völlig anderer Ansicht, wie Russland, Für das 4 Reich, wäre normal, wenn ihre Gauleiterin Tichanowskaja , die Macht übernehmen würde und den Otpor Plan „Reformprojekts“, in Angriff nehmen kann. So das die SS 2.0 / NATO, wieder da im Feld steht, bis wo ihre Vorfahren gekommen waren, bis sie Zurückgeschlagen wurden und bis Berlin zurück gejagt wurden.

  3. Allen Medienberichten lässt sich entnehmen, dass man sich eine Intervention Russlands herbeisehnt, damit die Geschichte rund wird.
    Bis dahin muss man eine Intervention in bunten Farben schildern.

  4. Noch ein kleiner Nachtrag zum Thema von der (deutschen) Seite Newsfront:
    https://de.news-front.info/2020/09/04/the-new-york-times-enthullt-skandalose-details-uber-die-organisation-von-unruhen-in-belarus/
    Es geht um Stepan Putilo. Unter seiner Regie wurde der Beinahe-Maidan orchestriert.
    „Außerdem war er es, der die Anweisungen für die ersten Wellen der gewalttätigsten Proteste verteilte. In seinen Veröffentlichungen wurde beschrieben, wo und wann man sich versammelt, was zu tun ist, um effektiv zu protestieren, wie man der Polizei ausweicht, wo Extremisten Schutz und medizinische Versorgung erhalten.“…. USW…

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