„Kein Problem ist gelöst“ – Wie das russische Fernsehen über den Brexit berichtet

Dreieinhalb Jahre wurde der Brexit wie ein Weltuntergang angekündigt und nun ist er vollzogen. Und siehe da: Die Welt dreht sich trotzdem weiter.

Wer sich fragt, warum der angekündigte Weltuntergang ausgeblieben ist, der muss wissen, dass der eigentliche Brexit noch gar nicht stattgefunden hat. Zwar ist Großbritannien aus der EU ausgetreten und seine Vertreter haben ihre Büros in Brüssel geräumt, aber in allen anderen Fragen geht es so weiter, als sei nichts geschehen. Bis Ende 2020 gelten in einer Übergangsfrist die bestehenden Bestimmungen weiter, als wäre London noch immer in der EU.

Nun muss Großbritannien bis Jahresende umfangreiche Verträge mit der EU aushandeln, wenn der harte Brexit nicht doch noch zum 31.12.2020 Realität werden soll. Das ist – gelinde gesagt – ambitioniert, vor allem für Nordirland weiß noch niemand richtig, wie es weitergehen soll. Wenn dort wieder eine harte Grenze eingeführt wird, droht das Wiederaufleben des Bürgerkrieges, den die meisten Menschen heute längst vergessen haben. Wenn es keine Grenze zu Irland geben soll, droht eine inner-britische Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreiches. Vor allem letzteres ist für London kaum hinnehmbar.

Denn auch ohne dieses Problem wachsen im Vereinigte Königreich die Fliehkräfte. Die Schotten wollen ein neues Referendum über ihre Unabhängigkeit und zurück in die EU, auch Wales ist nicht für den Brexit. In dieser Situation ist es schwer, irgendetwas zu prognostizieren. Daher will ich hier zeigen, wie in Russland über das Thema berichtet wird, anstatt mich an die Kristallkugel zu wagen.

Die russische Sendung „Nachrichten der Woche“ hat am Sonntag ihre Sicht auf den Brexit dargelegt und ich habe den Bericht des russischen Fernsehens übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

Eine laut angekündigte und nun erfolgreich umgesetzte Nachricht der internationalen Politik: Am 31. Januar um 23:00 hat das Vereinigte Königreich offiziell die Europäischen Union verlassen. Die Scheidung erfolgte dreieinhalb Jahre nach dem Referendum. Nach vielen Konsultationen und Verhandlungen in Brüssel, Streit im Parlament und sogar einer vorgezogenen Wahl hat Boris Johnson das Vereinigte Königreich auf das freie Meer geführt. Allerdings sind Schottland und Nordirland nicht glücklich über diese Freiheit und wollen unbedingt in die EU zurückkehren, auch ohne London. Niemand weiß, was als nächstes passieren wird. Es ist nur bekannt, dass Großbritannien parallele Verhandlungen an zwei Fronten beginnt. Es geht um die neuen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Die Frist läuft bis Ende des Jahres.

Die Grenze zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich ist das beste Beispiel für die Probleme beim Brexit. Jetzt ist sie völlig offen: Waren werden ohne Zölle und Zollkontrollen über die Grenze gebracht, für die Bürger der Europäischen Union und Großbritanniens gilt Visafreiheit.

Jetzt gibt es hier praktisch keine Grenze mehr. Dass man die Grenze passiert hat, merkt man nur an den Verkehrsschildern. In Großbritannien sind sie in Meilen pro Stunde ausgeschildert, in Irland in Kilometern pro Stunde. Wie es weitergeht, hängt davon ab, worüber sich London und Brüssel einigen können.

Vor allem in Nordirland wird die Wiederaufnahme des Konflikts zwischen den protestantischen Royalisten, die sich für das Vereinigte Königreich einsetzen, und den katholischen Republikanern, die sich nach der irischen Wiedervereinigung sehnen, befürchtet. In Belfast, der Hauptstadt der Region, gibt es immer noch eine riesige Mauer. Sie trennt die feindlichen Gesellschaften.

Der Konflikt dauerte fast 30 Jahre und forderte mehr als 3.000 Menschenleben. Eine der Bedingungen für die Aussöhnung war die Verpflichtung, die irische Grenze offen zu halten. Der Brexit gefährdet diesen Friedensprozess.

„Wenn Sie Zollbeamte an diese Grenze stellen, die Dokumente und Waren kontrollieren, ist es möglich, dass jemand sich entschließt, sie anzugreifen. Wie werden sie sie schützen? Sie stellen Polizisten neben sie. Und wenn jemand die Polizei angreift, wer sollte die dann schützen? Dann müssen Soldaten geschickt werden. Das britische Militär wird also in diesen Teil Irlands zurückkehren. Und dann wird es sicherlich ernste Probleme geben“, sagte Damien McShinni, Koordinator der Gruppe „Grenzbewohner gegen den Brexit“.

Der britische Premierminister Boris Johnson hat sich am Tag des Brexit in einen Rennwagen gesetzt. In diesem Jahr wird er wirklich eine gewisse Beschleunigung brauchen, wenn er in nur 11 Monaten einen neuen, umfassenden Vertrag mit der Europäischen Union abschließen will. Die Ablehnung europäischer Verordnungen und Richtlinien, beispielsweise im Finanzbereich, die London anstrebt, wird von der Europäischen Union mit Bajonetten begrüßt.

„Es ist unwahrscheinlich, dass es der EU gefällt, wenn das Vereinigte Königreich beispielsweise die europäischen Umweltstandards nicht einhält und die sozialen Standards ändert. Auf dem Kontinent wird man dagegen sein, dass die britische Regierung ihre Unternehmen mit Wettbewerbsvorteilen unterstützt“, sagte Jill Rutter, Direktorin am Institute of Government.

Selbst die siegreichen Befürworter des Brexit erwarten nichts Gutes von den Verhandlungen mit Brüssel. Das stört sie aber nicht: „Sie werden uns eine harte Zeit beschweren, als Quittung für den Austritt. Natürlich wird das alles nicht einfach, es kann Probleme geben, aber trotzdem ist es für uns besser so“, sind sie sich sicher.

Scheitern die Verhandlungen, wird das Vereinigte Königreich gezwungen sein, Handel mit der EU nach den WTO-Regeln zu treiben: mit Zöllen und Zollschranken, enormen Verlusten und möglichen Grenzschließungen in Nordirland. Einer der maßgeblichsten britischen Politikwissenschaftler – John Curtis – glaubt, dass Brüssel und London angesichts der gemeinsamen Risiken noch bis Ende des Jahres ein Rahmenabkommen unterzeichnen und das Abkommen über die Details aufschieben werden.

„Das Freihandelsabkommen wird wahrscheinlich eine Klarstellung enthalten, dass wir in den nächsten ein oder zwei Jahren nach einem bestimmten Plan vorgehen werden, aber die endgültige Fassung wird später fertiggestellt“, sagte John Curtis, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Startclyde.

Bisher ist das offensichtliche Ergebnis des Brexit, dass die Europäische Union um ein Land kleiner geworden ist, und zwar um ein sehr einflussreiches Land. Aber die Frage ist, welchen Preis das Vereinigte Königreich jetzt für seinen Austritt zahlen wird.

Schottland, das 2016 gegen den Austritt aus der EU gestimmt hat, fordert vom Vereinigten Königreich sein Recht auf Selbstbestimmung. Sie haben sich trotz Brexit geweigert, die EU-Flagge vom schottischen Parlamentsgebäude zu entfernen.

In dem Referendum im Jahr 2014 stimmten die Schotten gegen den Austritt aus Großbritannien, aber der Brexit gab den Befürwortern der Unabhängigkeit neue Kraft.

Eine aktuelle Umfrage von Yougov ergab, dass mehr als die Hälfte der schottischen Bevölkerung bereit ist, für die Unabhängigkeit zu stimmen: Es sind 51 Prozent.

„Schottland hat gegen den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Es sind die Briten, die uns da rausholen wollen. Wir wollen nicht. Ich mag es, Europäer zu sein. Man merkt, wenn ich „britisch“ sage, meine ich die Engländer“, sagt ein Schotte.

Eine solche Entwicklung kann London jetzt nicht zulassen. Die britische Regierung hat in Schottland viel zu verlieren. Zum Beispiel die strategisch wichtige Basis der Atom-U-Boote in Faslane bei Glasgow. Schottische Nationalisten fordern seit langem ihre Schließung.

In der Nähe des strategischen Objektes befindet sich das älteste Pazifisten-Camp der Welt, es steht hier seit 37 Jahren. Seine Bewohner sind natürlich für die Unabhängigkeit Schottlands.

„Wir haben nicht für Boris Johnson und seine Konservativen gestimmt und wir werden nicht den Preis für die Folgen seines Kampfes mit der EU zahlen. Die Menschen werden verhungern und sterben und er wird seine Banker weiterhin füttern. Das wollen wir in Schottland nicht“, sagen die Einheimischen.

Boris Johnson hat dem schottischen Parlament kürzlich das Recht verweigert, ein weiteres Referendum abzuhalten. Doch die regierende Scottish National Party hat nicht die Absicht, ihre Pläne aufzugeben.

„Boris Johnson lehnt die Demokratie ab und wir werden ihn zur Rechenschaft ziehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der Unterstützung der Schotten schließlich ein Referendum abhalten werden. Schottland wird unabhängig werden und Mitglied der Europäischen Union sein“, sagte Ian Blackford, Vorsitzender der Fraktion der Scottish National Party im britischen Parlament.

Nicht glücklich über Brexit ist man auch in Gibraltar. Dieser Splitter des Britischen Empires an der Südküste Spaniens ist Gegenstand langer und harter Auseinandersetzungen zwischen Madrid und London. 96 Prozent stimmten hier gegen den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.

„Wir haben nichts zu feiern. Im Gegenteil, für uns ist es ein Tag großer Enttäuschung. Viele Menschen in Gibraltar wollten in der Europäischen Union bleiben und fast 17 Millionen Briten haben genauso abgestimmt“, sagte Fabian Picardo, Gibraltars Ministerpräsident.

Der Brexit war für die Briten schwierig. Dreieinhalb Jahre Unsicherheit und politischer Streit haben dazu geführt, dass die Mehrheit sich freute, dass es endlich irgendeine Entscheidung gab.

Darüber hinaus ändert sich de facto noch nichts: Die Grenzen sind offen und auch für die Wirtschaft bleiben die alten Bedingungen bis zum Jahresende bestehen. Aber das ist nur eine Pause. Abgesehen davon, dass das Vereinigte Königreich seine Beteiligung an der Arbeit der gesamteuropäischen Strukturen seit dem 1. Februar eingestellt hat, ist keines der Probleme in den Beziehungen zu Europa gelöst. In London wurde der Austritt aus der Europäischen Union gefeiert, aber was der Brexit bedeutet, weiß hier noch niemand.

Ende der Übersetzung

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Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

2 Antworten

  1. Der Blick auf den Brexit könnte sowohl aus unserer Sicht, als auch aus der dargestellten Sicht des russischen Fernsehens zu einseitig sein. Die Fliehkräfte in der EU sind sehr groß. Betrachtet man die lange Geschichte von Großbritannien und die der EU, geht ein Stabilitätsvergleich nicht nach Brüssel. Schottland ist mindestens so maritim wie England und verschafft sich mit dem Verweis nach Brüssel eventuell nur eine bessere Position in Großbritannien. Ob die Schotten letztendlich Brüssel so viel mehr lieben als London und sich von der Quin verabschieden um zu von der Leyen zu wechseln, bleibt offen.

    Es gab in den letzten Jahren in Europa mehrere Volksentscheide zur EU. Alle sind für Brüssel schlecht ausgegangen, auch der in Irland. Das Problem Irland kann sich auch anders lösen. Irland bleibt bei der Quin, auch Nordirland.

    Angeblich geht es um Freihandelsabkommen. Es handelt sich bei den Forderungen von Brüssel allerdings um das Gegenteil. Mit dem Brexit befreien sich die Briten von tausenden EU Regeln. Mal sehen, was daraus wird. Der Westen, voran die EU hat den Freihandel abgeschafft. Für alles gibt es unüberschaubare Regeln.

    Kämen Regeln, Zölle und Sanktionen weg, explodiert die Weltwirtschaft. Vielleicht erleichtert der Brexit eine Befreiung der Weltwirtschaft von Zwängen und Beschränkungen. Die Chancen im Brexit bestehen in der Unruhe und dem Aufbrechen von Verklammerungen.

  2. „…eine gewisse Beschleunigung brauchen, wenn er in nur 11 Monaten einen neuen, umfassenden Vertrag mit der Europäischen Union abschließen will.“

    Wer kam eigentlich auf die wahnsinnige Idee das man die Beziehungen zweier Länder bzw. Organisationen (EU) mit nur einem einzigen Vertrag umfassend und umfänglich abwickeln muss?

    Warum macht man nich einen Vertrag zum Thema Grenzen, einen zum Thema Handel, einen zum Thema Finanzen usw usf.?!

    Sind wir hier nicht weiter als das Niveau eines Autohändlers, bei dem man auch nur alles in einem Packet bekommt? „Tempomat? Da brauchen Sie unser Dynamik-Packet mit Tempomat, Spurhalteassistent und extra großem Navi. Nein, alleine gibts das nicht, Sie müssen alles nehem oder nichts.“

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